
"Wirtschaft vom Regulierungswahn befreien"
Steigende Kosten, Fachkräftemangel und globale Krisen setzen Kärntens Industrie unter Druck. Ökonom Norbert Wohlgemuth erklärt, warum Protektionismus der falsche Weg ist, welche Reformen nötig wären und wo Kärnten noch ungenutzte Chancen hat.
Lesedauer: 6 Minuten
Herr Wohlgemuth, die neue Regierung in Österreich sowie die Gemeinden müssen an allen Ecken sparen, die Industrie befindet sich das dritte Jahr hintereinander in Rezession und Trump hält Europa in Atem. Ist wenigstens Kärnten wirtschaftlich noch zu retten?
Die Kärntner Industrie ist eng mit der europäischen verflochten. Selbstverständlich wird es die Industrie weiterhin geben, auch wenn der sekundäre (Waren produzierende) Sektor in Ländern wie den Vereinigten Staaten mittlerweile weniger als 10 Prozent zur Wirtschaftsleistung beiträgt. Vielleicht wird das Ergebnis von Trumps erratischer Politik Antiamerikanismus und Make Europe great again sein. Vielleicht bedeutet MAGA in Wirklichkeit Make Austria Great Again. Dieses auf den ersten Blick unwahrscheinliche Szenario könnte sich ergeben, wenn Europa durch äußeren Druck zusammenrückt und dadurch z. B. die Integration des Binnenmarkts vorantreibt. Europa ist auch bislang in Krisen zusammengewachsen. Die aktuelle Rezession zeigt die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum, auch wenn in gewissen Kreisen Degrowth propagiert wird.
Welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um Kärnten als Industriestandort zu stärken?
Empfehlungen gelten nicht nur für Kärnten, sondern mehr oder weniger für die europäische Industrie. Wichtiger als das „Ankurbeln“ mit staatlichen Mitteln wäre das Befreien der Wirtschaft vom Regulierungswahn auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung. Dazu braucht man nicht das Department of Government Efficiency (DOGE) zum Vorbild nehmen, aber die diesbezüglichen Bemühungen der Regierung erscheinen angesichts der dramatischen Lage nicht gerade ambitioniert. Mehr angebotsorientiere Wirtschaftspolitik (supply side economics) würde die ökonomische Aktivität anregen, ohne die Staatsfinanzen noch weiter an den Rand des Abgrunds zu bringen. Um einen Wirtschaftsstandort langfristig abzusichern, bedarf es auch solider öffentlicher Finanzen. Angesichts der bevorstehenden Erhöhung der (europäischen) Rüstungsausgaben und der Schuldenfinanzierung dieser Ausgaben muss mit einem Anstieg der Inflation gerechnet werden. Ein Rückbau des Sozialstaats ist ein Anathema. Es ist bedenklich, wenn der Finanzminister angesichts einer der höchsten Steuer- und Abgabenquoten weltweit von einem Einnahmenproblem spricht. Wir wollen nicht wahrhaben, dass wir über unsere Verhältnisse leben (siehe Pressemitteilung "Öffentliches Defizit"). In Deutschland werden die zusätzlichen Ausgaben für Rüstung als „Sondervermögen“ bezeichnet, obwohl „Sonderschulden“, die obendrein von den EU-Stabilitätskriterien ausgenommen sein sollen, die passendere Bezeichnung wäre. Aber bereits Friedrich August von Hayek beklagte die „Verdrehung der Sprache und den Bedeutungswandel der Wörter“. Ökonomen sagen oft “there’s no such thing as a free lunch”. Heute lautet das Motto “There’s no such thing as a free tank”. Wenn wir das Kriegsgerät nicht bezahlen, dann die kommenden Generationen bzw. die Inflation über die Besteuerung der Sparer.
Die Energiewende stellt viele Industriebetriebe vor große Herausforderungen. Welche Strategien sind aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll, um wettbewerbsfähig zu bleiben?
Die Wettbewerbsfähigkeit hängt von den Preisen der Produktionsfaktoren Kapital, Arbeit, Energie und Rohstoffe sowie deren Produktivität dar. In allen Bereichen hat Österreich stark abgebaut: Kapital ist teuer, ebenso Arbeit wegen der automatischen Kopplung der Löhne an die Inflation. Energie ist nicht nur wegen des Krieges in der Ukraine teuer, sondern auch, weil Kostensenkungspotenziale offener Märkte nicht im vollen Ausmaß genutzt werden. Statt sich verkrampft auf 100 Prozent „bilanziell“ inländischen Stroms zu versteifen und importierten als „schmutzig“ zu bezeichnen, sollte der Binnenmarkt für elektrische Energie weiter ausgebaut werden. Damit könnten die Kosten gesenkt und gleichzeitig die Energieversorgungssicherheit erhöht werden. Bei Arbeit gibt es nicht nur so gut wie kein Produktivitätswachstum mehr, es werden auch immer weniger Stunden pro Erwerbstätigem/r geleistet. Angesichts der demografischen Entwicklung ist das unverständlich, im Hinblick auf die Besteuerung von Arbeit jedoch durchaus nachvollziehbar. In den letzten 20 Jahren ist die Arbeitsproduktivität Europas im Vergleich zu jener der USA dramatisch gesunken. Industrie-, Wettbewerbs-, Klima- und Handelspolitik sollten nicht isoliert, sondern gesamtheitlich betrachtet werden, um eine Deindustrialisierung Europas zu vermeiden.
Wie können Kärntens Industriebetriebe von der EU-Taxonomie und anderen nachhaltigen Finanzierungsinstrumenten profitieren?
Die EU-Taxonomie gilt für die ganze EU. Deshalb ist es schwierig, hier einen Vorteil zu erlangen. Neue Geschäftsfelder mit „grünen Industrien“ entstehen überall; auch soll die Energieversorgung europaweit vollständig dekarbonisiert werden. Die Definition von „nachhaltig“ wird aktuell intensiv diskutiert. Brauchen wir kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, wenn wir Aktien von Rüstungskonzernen im Portfolio haben? Die Kriterien der EU-Taxonomie werden gerade aufgeweicht. Vom Green Deal redet man in Brüssel kaum noch, jetzt aber von Wettbewerbsfähigkeit.
Viele Betriebe klagen über den Fachkräftemangel. Wie können Industrie und Bildungsinstitutionen besser zusammenarbeiten, um diesem Problem entgegenzuwirken?
Der Fachkräftemangel ist eine direkte Folge der demografischen Entwicklung, von der Kärnten besonders betroffen ist, weil die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter noch rascher sinkt als in den anderen Bundesländern. Die Alterung der Gesellschaft betrifft mittlerweile fast alle Länder weltweit. Die OECD hat dazu kürzlich den Bericht Korea’s Unborn Future veröffentlicht, der Gründe für die niedrige Fertilität untersucht. Der Fachkräftemangel zeigt sich in allen Wirtschaftssektoren, nicht nur in der Industrie. Wir werden uns noch mehr um qualifizierte Zuwanderer bemühen müssen, wobei die Betonung auf qualifizierte liegt. Wichtig ist auch, dass Menschen länger in Beschäftigung bleiben und in produktiven Bereichen der Wirtschaft eingesetzt werden, d.h. vor allem in der Industrie und weniger in der Verwaltung. Die Güterproduktion lässt sich im Vergleich zum Dienstleistungsbereich leichter automatisieren. Damit gibt es noch Potenzial zur Steigerung der Produktion bei weniger Beschäftigten. Die chinesische Autoproduktion kann dafür ein Modell darstellen.
Wie bewerten Sie die Innovationskraft Kärntens im Vergleich zu anderen Industriestandorten in Europa?
“How to escape the middle technology trap” ist ein Bericht zur EU Innovationspolitik. Dieser hält fest, dass Europa nicht in der Oberliga mitspielt, z.B. im Vergleich mit den USA. Grundsätzlich ist Kärnten bezüglich Innovation gut aufgestellt, wenn auch die Konzentration auf einen Bereich eigene Probleme mit sich bringt. Auch ist das Messen der Innovationskraft keine triviale Angelegenheit. Bei Verwendung der Forschungsquote liegt Kärnten – wie Österreich insgesamt – im EU-Vergleich vorne. Allerdings betrachtet die Forschungsquote lediglich die Inputseite, d.h. wieviel Geld in die Forschung gesteckt wird. Auf der Outputseite, z. B. gemessen an Patentanmeldungen, hinkt Österreich nach. Das KWF Budget ist bescheiden. Nur um es in die richtige Perspektive zu bringen: Eine einzige Gehaltserhöhung der Beschäftigten des Landes entspricht ungefähr dem Beitrag des Landes zum KWF Budget.
Die Globalisierung hat Lieferketten stark verändert. Wie können sich Kärntner Industriebetriebe resilienter aufstellen?
Die Lieferketten müssen nicht kürzer werden, sondern breiter. Möglichst viel im Inland produzieren zu wollen ist letztendlich eine Form von Protektionismus und ökonomischer Unfug. Wir sollten auf offene Märkte setzen, weil diese unseren Wohlstand sicherstellen, auch wenn das der Imperator im Weißen Haus nicht so sieht.
Welche wirtschaftlichen Entwicklungen auf internationaler Ebene haben aktuell den größten Einfluss auf Kärntens Industrie?
Die US-Handelspolitik schädigt nicht nur die Handelspartner der Vereinigten Staaten, sondern zeigt ihre negativen Effekte auch in den USA selbst. Mit den immer weiter steigenden Zöllen und Vergeltungszöllen besteht die Gefahr, dass wir uns in eine Weltwirtschaftskrise wie in den 1930er Jahren hineinmanövrieren könnten. Auch deshalb sollten wir uns um neue Handelspartner umschauen und Blockierer wie die Landwirtschaftskammer ignorieren. Die Sozialpartner sind mittlerweile zum Bremsklotz für höchst notwendige Reformen geworden.
Wie wichtig sind Exportstrategien für Kärntner Unternehmen, und welche Märkte bieten derzeit besonders große Chancen?
Es gibt eine Exportstrategie, jedoch keine Importstrategie. Nicht jedes Land kann ein „Exportweltmeister“ sein. Länder, die im Vergleich zur Binnennachfrage zu sehr auf Exporte setzen (z. B. China, Deutschland), geraten nicht ganz zu Unrecht in das Visier des US-Präsidenten.
Norbert Wohlgemuth im Wordrap
- Frühaufsteher oder Langschläfer? Frühaufsteher
- Kärntner Käsnudel oder Wiener Schnitzel? Kasnudl
- E-Auto oder Verbrenner? Solange mein (32 Jahre alter) Verbrenner funktioniert, stellt sich die Frage nicht.
- Wörthersee oder Adria? Adria
- Wenn ich nicht Ökonom geworden wäre, dann … Informatiker